Meine Geschichte beginnt...

...mit der Industrialisierung im 19ten Jahrhundert, wo ich noch frei und geistig klar meine mir angeborenen Schlingen und Schleifen talabwärts ziehen konnte. Mit freudigem Geplätscher durfte ich auch da und dort auf meinem Weg die Mühlen und Hammerwerke der Menschen antreiben. Entlang der schönen Wiesen und verträumten Auen konnte ich mich im Schatten ihres Bewuchses ausruhen und so mein inneres Gleichgewicht zum Fließen wieder herstellen. Das gelang mir damals noch so gut, daß ich mich immer wieder auf eine neue Arbeit für die Menschen freuen konnte. Mein Leben war lustig und abwechslungsreich.

Da ich meine Aufgaben soweit mir möglich gewissenhaft erfüllte, wurde ich immer öfter zum Antrieb der Wasserkraftanlagen herangezogen. Trotzdem hatten die Menschen schon immer Angst vor meinen mir angeborenen Eigenheiten. So konnten sie auch damals schon meine Lebensfreude im Frühjahr beim Schmelzwasser oder nach einer Gewitterabkühlung nicht verstehen. Ohne mich zu fragen oder genauer zu kennen, begannen sie in ihrer Unwissenheit mir von Ihnen vorbestimmte Lebensräume zu geben. So versuchten sie ihre zunehmend größer und schöner werdenden Ansiedlungen und die für die Lebensmittelerzeugung wichtigen landwirtschaftlichen Flächen durch sogenannte Regulierungsmaßnahmen vor mir hochwassersicher zu machen. Mit der Errichtung der Eisenbahn wurde so erstmals in für mich spürbarer Größenordnung in mein Hochwasserabflußvermögen eingegriffen.

Die bestehenden Wasserkraftanlagen hatten auf Grund der Erfordernisse und Möglichkeiten bis dahin einen geringen Ausbaugrad. Sie waren aus Holz gebaut und fügten sich in ihrer verträumt wirkenden Art gut in die natürliche Umgebung ein. So konnte man auch in den schon etwas eingeengten Verhältnissen noch recht gut leben.Bei diesen Anlagen lag die Wehrschwelle bzw. die Höhe des Grundablasses im Schützensystem meistens auf dem Niveau meiner Natursohle.

Zu ihrer Hochwassersicherheit gönnten mir die Menschen auch einen entsprechenden Vorlandabfluß in meine, von mir und meinen Untermietern so geliebte Auen. Dort konnte ich mich gemütlich ausrasten und mit meinen Verwandten, dem Grundwasser über unsere Aufgabenverteilung kommunizieren.Damals hatte ich noch vielzählige Untermieter. Die Fische, Krebse und sonstige auf meinen Wasser und Launen angewiesenen Tiere konnten aber auch in meinen Aunebenarmen Hochwässer und vor allem die Kinderzeit geschützt verbringen.

Dort erfuhr ich von Ihren Erlebnissen auf den Wanderungen in entfernte Gewässer. Einmal erzählte mir in vergangener Zeit und in stiller Stunde ein alter grauer Fisch, daß er in jungen Jahren bis zur Donau, meiner Großtante gekommen sei. Aber nach all den Jahren der Erfahrung war er froh, wieder bei mir zu sein.

So konnte ich damals zwischen Träumerei und Geplätscher auch bei unterschiedlichsten Wasserführungen noch einen Gleichgewichtszustand im Gewässerbett und in den organisch angeschlossenen Hochwasserabflußräumen mit natürlicher Leichtigkeit herstellen. Ein helfender Eingriff in Bezug auf meinen Geschiebehaushalt war daher nicht erforderlich und mit den damaligen, technischen Möglichkeiten auch nicht durchführbar. Wenn auch bei diesen, noch mit Gefühl und Verständnis angepaßten Wasserkraftanlagen zu dieser Zeit meine Fließabschnitte weitgehend naturdynamisch, lebendig und unverbaut waren, sind damals die jeweiligen Geschiebemengen dennoch nicht unbedeutend gewesen. Trotzdem, oder gerade deshalb, kam es in meinem Lebensraum zu keinem störenden Geschiebeenergieverhältnis.

Im Zuge der kontinuierlichen Industrialisierung meines Tales von 1900 bis 1960 versuchten die Menschen immer öfter zur Sicherung ihres Siedlungsraumes einzelne Schutzmaßnahmen entlang meines Weges zu errichten. Wenngleich bei diesen Maßnahmen meine ausgleichenden, tanzenden Bögen durchschnitten, dadurch die Fließgeschwindigkeiten erhöht und die Sohlbreiten normiert wurden, war die erforderliche Naturnähe mit einer störungsfreien Dynamik noch immer für mein genügsames Leben gegeben, zumal dabei noch große Vorlandabflußräume für meine Hochwasserabflüsse auch weiterhin zur Verfügung standen und keine ermüdenden Kraftanlagen in dieser Zeit neu errichtet wurden. So konnte ich auch noch bei großen Hochwässern wie im Jahre 1958 meine natürlichen Vorzüge ausspielen und spürte auch bei meinem für mich lebensnotwendigen Geschiebetransport noch keine störenden Veränderungen. Von den wachsenden Schottermengen, die mir unter anderem durch den in diesen Jahren einsetzenden, schlecht abgesicherten Wegebau von Menschenhand zur Verdauung überlassen wurden, bekam ich in zunehmendem Maße Blähungen. Meine dynamischen, selbstheilenden Möglichkeiten reichten gerade noch aus, um im dafür noch vorhandenen Umland diese Organüberbelastungen in Form von Übergaben, loszuwerden. So hatte ich oft keine andere Möglichkeit, als mein überschüssiges Geschiebe in den Hochwasserabflußflächen abzulagern.

In dieser Zeit dachten die Menschen auch, sie könnten mir alles anvertrauen, was sie nicht mehr zum Leben brauchten. Als sie endlich erkannten, daß es mir trotz aller meiner Bemühungen immer schlechter ging und selbst ihr Trinkwasser gefährdet war, begannen sie umzudenken, errichteten sogar Kläranlagen und die Müllsünder wurden seit damals bestraft. Kaum hatte ich mich von den infarktgefährdeten Verunreinigungen erholt, erwarteten die Menschen als Gegenleistung, daß ich einen fast vollständigen Wasserkraftanlagenausbau verkrafte. Dieses menschliche Verhaltensmuster brachte jedoch wesentliche Veränderungen in mein Lebensflußsystem.

Bei den vielen, aneinandergereihten, neuen Kraftanlagen haben sie nur an sich gedacht und jede Anlage jeweils nur für sich betrachtet. Die Sperrwerke sind mit neuartigen stählernen Klappen- oder Schlauchsystemen ausgerüstet, so daß mein Weg ausschließlich über die hohen Wehrkanten führen muß. Bei diesen Anlagen mit ihren langen flachen Stauräumen und Verschlußsystemen kann ich daher mein Geschiebe nicht mehr so transportieren, wie bei den seinerzeitigen Wehren mit ihren relativ kurzen Stauräumen und den von mir so geschätzten Grundablaßschützen. Da konnte ich auf einfachem Wege das Geschiebe problemlos unter den geöffneten Holztafeln mitnehmen und mit Freude das Weite suchen. Durch den zusätzlich hohen Ausbaugrad der Anlagen bis zum hundertjährigen Hochwasserereignis bin ich einerseits von meinen Vorlandabflußräumen abgeschnitten, und andererseits werden mir durch geänderte Quer-und Längsprofile die notwendigen Abflußvoraussetzungen für meinen Geschiebetrieb genommen.

Meine in Tausenden von Jahren eingerichtete Flußsohle wird zusätzlich an der Wehrschwelle meistens nach oben verlagert und das Stauziel über das natürliche Gelände angehoben. Im Unterwasser nach der Sperrwehr hat man vielerorts meine Sohle in gleichem Maß zusätzlich eingetieft, was auch Auswirkungen auf den Grundwasserspiegel hatte. Durch diese unverhältnismäßig großen Eingriffe werden mir meine ureigenen Schleppkräfte genommen, und so muß ich nun mein Geschiebe in den jeweiligen Stauwurzeln und Unterwasserstrecken teilweise massiv ablagern. Bei Hochwasser kann es dann leider geschehen, daß ich aus Platzmangel mein Bett an diesen Stellen früher verlasse und ohne nachbarschaftliche Rücksicht einen nicht plangemäßen Weg suchen muß. Periodische Räumungen dieser Lebensbereiche, besser jetzt Anlagenbereiche, sind für die sogenannte Konsenssicherstellung erforderlich geworden. Abgesehen von diesen ständigen, störenden Eingriffen in meinen Lebensbereich wird durch diese Entnahmen das organische Energiegleichgewicht zerstört. Da ich nun kein Geschiebe zu transportieren habe, erhöht sich meine Fließgeschwindigkeit, und die Schleppkraft nimmt zu. Um einen Ausgleich zu schaffen, muß ich mit der gewachsenen Schleppkraft solange das notwendige Geschiebe aus der Sohle und den Uferrändern holen, bis meine lebensbestimmende Energiebilanz wieder ausgeglichen ist. Unter normalen Bedingungen lagere ich Geschiebe, das ich im Augenblick nicht brauche, auf Bänken ab, um sie bei Bedarf wieder zu holen. Diese Geschiebereserven werden mir in Unkenntnis ihres Verwendungszweckes in zunehmendem Maße auch aus naturbelassenen Strecken entnommen, so daß sich meine Sohle zunehmend eintieft, und die Ufer unterwaschen und zerstört werden.

Gott sei Dank, dass mir die Menschen noch einzelne natürliche Lebensabschnitte gelassen haben, wo ich dann meine Kraft und Freude zeigen kann. Leider zerstöre ich mir dabei im Übermut meistens meine letzten naturbelassenen Ufer. Das wäre nicht so schlimm, wenn die Menschen nicht in Unkenntnis der Gezeiten mir mein Gewand - das Ufer – mit anpassungsunfähigem Material wieder zuflicken würden. Bei meinen jüngsten Hochwässern konnte ich diese Umstände besonders gut zeigen. Da bekam ich die gesamten Wassermassen schon im Oberlauf und meine Zubringer im Unterlauf konnten aus diesem Grunde keine Geschiebefrachten mehr einbringen. Dabei blieben meine Frachten schon in den ersten Stauräumen liegen, und ich konnte nichts mehr weiter transportieren. Selbst die dann in bestem menschlichen Wissen ausgeführten Ufersanierungen und Stabilisierungen in meinen verbliebenen Restfreistrecken können weder den Verlust meines natürlichen Zustandes, noch die für mich und meine Untermieter lebenswichtige Jahresdynamik ersetzen. Zusätzlich kann ich durch die verringerte Fließgeschwindigkeit in den Anlagebereichen meine Bodensohle auch nicht mehr offen halten, so daß sich der in zunehmendem Maße absackende Grundwasserstand auf die umgebende Vegetation beeinträchtigend auswirkt.

Durch diese Trennung zu meiner angeborenen Schwester dem Grundwasser, können die jahreszeitlichen, dynamischen Wasserverbindungen nicht mehr im vorherigen Ausmaß stattfinden. Dadurch ist eine gegenseitige Unterstützung bei der Hochwasserabfuhr auch nur mehr begrenzt möglich. Da der Grundwasserspiegel auch durch die zunehmenden Bodenversiegelungen örtlich deutlich abgesunken ist, könnte die Schwester mit ihren frei gewordenen Körper größere Hochwassermengen problemlos aufnehmen und meine Hochwasserspitzen im Unterlauf entscheidend dämpfen und so zur natürlichen Hochwasserentlastung beitragen.

Der gewissenhafte, ehrliche Betrachter meines Zustandes wird in den veränderten Lebensräumen besonders im Sommer meine ermüdeten Wellen hören und die in Gedanken an frühere Zeiten glasig gewordenen Wirbelaugen sehen können.

Dass ich noch fließen werde, wenn es die Menschen schon lange nicht mehr gibt, erfüllt mich dabei nicht mit Genugtuung. Vielmehr trage ich die Hoffnung wie das Geschiebe in mir, dass es ihnen vergönnt sei, mich irgendwann vor Ablauf ihrer Zeit verstehen zu wollen.

Gehört und weitererzählt von Aquarius.

Vielleicht sind klimatische Veränderungen und Hochwasser leichter zu verstehen als wir uns eingestehen. Die Antwort erhalten Mitspieler und Verantwortliche aber ganz sicher von nachfolgenden Generationen und unseren Kindern!

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